Katholische Gläubige können niemals Nationalisten sein. Das sagte
Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit Radio Vatikan. Der Präsident der
Kommission der EU-Bischofskommission COMECE und Vorsitzende der
Deutschen Bischofskonferenz meinte mit Blick auf die an diesem
Donnerstag begonnenen Wahlen zum EU-Parlament, „Kritik an einzelnen
politischen Entwicklungen“ in Europa sei immer möglich, gleichzeitig
aber sei das europäische Anliegen, „für eine bessere Welt, für alle
Menschen“ einzustehen, weiterhin ein großes Ziel, „.wo man sich auch als
Christ gut engagieren kann“. Gudrun Sailer sprach mit Kardinal Reinhard
Marx.
Herr Kardinal, ist die Kirche eine überzeugte Europäerin?
„Das
glaube ich schon. Von Anfang an, seit das Projekt einer Einigung
Europas nach dem Zweiten Weltkrieg Fahrt aufgenommen hat, war die Kirche
positiv unterstützend tätig. Pius XII. hat es von Anfang an
unterstützt, und auch die Päpste danach. Europa ist auch ein besonderer
Kontinent, einmal durch die schreckliche Geschichte des 20.
Jahrhunderts, die Ereignisse auf dem christlichsten Kontinent überhaupt,
daher auch die besondere Herausforderung an einen europäischen
Christen, an einem Europa mitzuarbeiten, das für Frieden und Versöhnung
steht. Es kommt hinzu, dass die Kirche ein besonderes Verhältnis zu
Europa hat, das ist der Kontinent, wo das Evangelium sich intensiv
verbreitet hat seit 2000 Jahren, wo das Christentum und der Glauben eine
prägende Kraft entfaltet haben, da gibt es einfach eine besondere
Beziehung, auch wenn die Kirche natürlich nicht auf Europa beschränkt
ist.“
Weniger eindeutig ist, ob auch alle katholischen
Gläubigen überzeugte Europäer und Europäerinnen sind. EU-Skepsis
herrscht quer durch alle Lager, und oft gehen in den Parteien
Raus-aus-der EU-Tendenzen auch mit nationalistischen Tendenzen Hand in
Hand, wie zum Beispiel in Österreich sichtbar. Was würden Sie
katholischen Wählern in einer solchen Lage empfehlen?
„Wahlempfehlungen
soll ein Bischof eigentlich nicht abgeben. Zunächst geht es darum, dass
man zur Wahl überhaupt geht. Und als katholischer Christ kann man nicht
nationalistisch sein, das geht ja gar nicht. Denn wir sind ja in dem
Glauben, dass Jesus der Bruder aller Menschen ist, dass jeder Mensch, ob
nun Deutscher, Franzose, Afrikaner, Mann oder Frau, schwarz oder weiß,
arm oder reich, krank oder gesund, Bild des lebendigen Gottes ist. Wir
sind eine Menschheitsfamilie. Das heißt nicht, dass wir auch patriotisch
sein können. Das ist selbstverständlich, wir stehen zu unserer Heimat,
aber nationalistisch kann ein katholischer Christ nicht sein. Er muss
immer auch an die anderen denken und an ihre Interessen, ihre
Lebensmöglichkeiten. Wir können ja nicht sagen, wir glauben an das Gebot
von Jesus, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und dann im
Verhältnis der Völker dieses Liebesgebot nicht im Blick behalten. Aber
da müssen wir immer neu uns auf den Weg machen. Ich würde sagen, eine
Kritik an Europa ist immer möglich, und man kann an einzelne politische
Entwicklungen Kritik üben und muss sich da einmischen. Ich glaube aber
gar nicht, dass eine große Mehrheit der Menschen der Ansicht ist, man
soll das Ganze europäische Projekt stoppen und aus der europäischen
Union hinausgehen – das ist doch eine Minderheit.“
Der
SPD-Kandidat für die EU-Wahlen Martin Schulz hat eine neue Kreuz-Debatte
vom Zaun gebrochen; es ging um die Präsenz christlicher Symbole im
öffentlichen Raum. Sind solche Debatten eigentlich hilfreich – und gehen
sie die EU als Staatenbund etwas an?
„Herr Schulz hat das
schon sehr relativiert und zurückgenommen, was ich auch erwartet habe;
denn natürlich ist das nicht Sache der Europäischen Union. Bewusst haben
wir uns dafür entschieden, und das unterstütze ich gerade auch als
Präsident der COMECE, dass wir vor allem das Verhältnis von Kirche und
Staat, die gewachsenen Traditionen, in den Ländern, auch der Präsenz des
Religiösen in den verschiedenen Ländern, dass das Sache der einzelnen
Staaten bleibt und dass man respektieren muss, dass dort
unterschiedliche Traditionen sind. Insofern habe ich mich über die
Debatte ein wenig gewundert, das ist nicht Kompetenz der europäischen
Union, und so soll es auch bleiben.“
2012 hat die EU den
Friedensnobelpreis erhalten. Die Begründung war, die EU sei der
entscheidende Faktor dabei gewesen, dass aus Europa, das ein Kontinent
der Kriege war, einen Kontinent des Friedens wurde. Das ist einerseits
offenkundig, andererseits scheinen immer mehr Menschen in Europa blind
für die Errungenschaften der europäischen Einigung. Warum?
„Errungenschaften
sind nie für immer da. Das ist ja manchmal auch die Versuchung der
politischen Rede, zu sagen, schaut auf das, was wir erreicht haben. Für
die nächste Generation ist immer neu zu begründen, warum man in einer
Union ist. Aber natürlich ist die EU eine Versammlung von freien
Völkern. Es ist zum ersten Mal in der Geschichte so, dass sich Menschen,
Völker, Staaten frei entscheiden, sich zu binden, aneinander zu binden
ohne Gewalt, und damit gleichzeitig auch sagen, wir wollen ein Beitrag
sein für eine friedliche Welt, für Versöhnung, für Welthandel, für
Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kultur. Das ist ein Projekt
ohne Vergleich in der Menschheitsgeschichte. Das muss aber immer neu
begründet werden. Und das kann man auch im Blick auf die aktuelle
Situation durchaus tun. Man merkt, dass das nicht selbstverständlich
ist, eine solche Vision, eine solche Idee. Dass wir keine Bedrohung sein
wollen für andere in der Welt, sondern dass wir ein Beitrag sein wollen
für eine bessere Welt, für alle Menschen. Ich halte das weiterhin für
ein großes Ziel und ein Ziel, wo man sich auch als Christ gut engagieren
kann.“
Sie sind einer der engsten Berater von Papst
Franziskus, dem ersten nicht-europäischen Papst seit ungefähr 1.300
Jahren. Im Pontifikat Papst Benedikts spielte das Thema Europa für den
Heiligen Stuhl noch eine zentrale Rolle – und unter Franziskus?
„Im
ersten Jahr muss der Papst sich mit vielen Dingen beschäftigen, und
natürlich kann man nicht einfach erwarten, dass ein lateinamerikanischer
Papst, der jetzt allerdings auch Bischof von Rom ist, also Europäer
geworden ist, sich auch um die europäischen Angelegenheiten kümmert.
Dass er einen anderen Zugang hat, ist denke ich selbstverständlich. Aber
dafür sind wir ja alle gerufen. Der Papst ist nicht allein gerufen, das
was in der Kirche auf der Tagesordnung steht voranzubringen. Das ist
eine Gemeinschaft. Deshalb hat er diesen Rat der acht Kardinäle nach Rom
berufen um zu sagen, wir wollen mit dem Blick der gesamten Kirche auf
das Thema Kurienreform, auf das weitergehen der Kirche schauen. Deshalb
beruft er die Synoden ein und sagt, ja gut, wir haben etwa zum Thema Ehe
und Familie, auch in den westlichen Ländern, in West- und Osteuropa, in
Amerika wir haben verschiedene Probleme, aber es gibt auch noch andere
Völker und Kontinente, die zu dem Thema etwas zu sagen haben. Ich glaube
schon, dass wir positiv sagen sollten, nicht: was macht der Papst jetzt
mit uns, wo bleiben wir Europäer, sondern er weitet unseren Blick auf
das Gesamte der Welt. Und das ist eine gute Perspektive. Er übersieht
Europa nicht, aber er sagt auch, nun schaut mal auf die ganze Welt, ihr
seid ein Teil der ganzen Welt – ich finde das richtig.“
(rv 22.05.2014 gs)
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