15. April 2022 - Liebe Geschwister im Glauben! „Umdeutung“ (englisch: reframing, wörtlich „Neu-Rahmung“) bezeichnet eine Technik aus der Systemischen Familientherapie. Dabei wird einer bestimmten Situation eine andere Bedeutung oder ein anderer Sinn zugewiesen, indem man versucht, das Geschehen in einem neuen Zusammenhang zu sehen. Denn wie ein Rahmen den Ausschnitt eines Gesamtbildes festlegt, so definiert auch der bestimmte Blickwinkel eines Menschen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Unsere Sicht ist immer in irgendeiner Weise eingegrenzt. Wer diese innere Festlegung verlässt, kann neue Möglichkeiten der Deutung zulassen. In dieser Technik geschulte Therapeutinnen und Therapeuten helfen anderen, mit be-drückenden Situationen anders umzugehen. So können etwa Verhaltensmuster in der Familie, wie: „Meine Mutter mischt sich ständig in mein Leben ein“, durch positive Umdeutung, wie: „Ihre Mutter möchte Sie also gut beschützen“, ihre beklemmende Wirkung verlieren. Auch im Alltag begegnet uns das Phänomen der Umdeutung. Wer sagen kann: „Scherben bringen Glück!“, stellt seinen Verlust in einen neuen Rahmen; deutet das Zerbrochene positiv im Hinblick auf einen höheren Wert. Und das ist im guten Sinne Lebenskunst, die zu größerer Zufriedenheit beiträgt.
Die Umdeutung des Leidens Jesu ist die entscheidende
Glaubenskunst des Christlichen, liebe Mitfeiernde. Aufhorchen lässt
allein schon die Tatsache, dass die vier Evangelien das Kreuz nicht
verschweigen, diese schändliche Folterart, die den Verurteilten mit dem
Leben zugleich ihre Ehre und das würdigende Andenken rauben sollte. Sie
verschweigen die Passion unseres Herrn nicht, nein, sie stellen sie
sogar in vielen Details und Dialogen ausführlich dar. Sie machen sie zu
einem Schwerpunkt der christlichen Verkündigung. Dabei begleiten sie das
Geschehen dieser Tage in Jerusalem nicht bloß dokumentarisch. Sie
deuten, legen mit ihrer Bezugnahme auf die prophetischen Schriften und
die Psalmen des Ersten Testamentes einen neuen Rahmen über das
Geschehen. Was durch die Intrigen der Gegner Jesu und das Machtkalkül
der römischen Besatzer zer-brochen und verloren schien, wird so als das
erkannt, was es in den Augen Gottes wirklich ist. Angelehnt an den
emphatischen Ruf des Apostels Paulus im Galaterbrief (Gal 6,14) steht
diese Deutung als Eingangsvers über der Liturgie der Heiligen Drei Tage:
„Wir rühmen uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus. In ihm ist
uns Heil geworden und Auferstehung und Leben. Durch ihn sind wir erlöst
und befreit.“ Was sich für uns so vertraut anhört, das ist eine wahre
Meisterleistung am Ursprung unserer Religion. Ohne diese – von Gott
selbst in der Auferweckung seines Sohnes initiierte – Umdeutung wären
wir heute nicht hier, es gäbe keine Christinnen und Christen.
Die
kunstvolle Komposition der Passion, wie sie der Evangelist Johannes
niedergeschrieben hat, ist so eindrucksvoll, menschlich anrührend,
spirituell und theologisch tiefgründig, dass sie unmittelbar auf uns
wirkt. Da wird erzählend vor uns eine Deutung des Karfreitagsgeschehens
entfaltet, die offen ist, vieles daran zu knüpfen, was uns jetzt und
hier bewegt. Und auch für das, was uns bewegt, wird so ein neuer Rahmen
aufgelegt, der zu einem tieferen Verständnis führen kann; zur weiteren
Perspektive der Hoffnung, die uns durch Jesus offensteht.
Das Leiden
des Sohnes Gottes ruft die Frage nach dem Sinn des Leidens insgesamt
auf. Die vielen Menschen in unverschuldeter Not oder in bewusst und
brutal zugefügtem Leid, sie alle rufen zu aktiver Sympathie auf, die
alle Möglichkeiten nutzt, ungerechte Strukturen anzuprangern und
politisch auf Veränderung zu drängen. Wie dankbar dürfen wir in Europa
sein für die offenherzige Bereitschaft, den aus der Ukraine geflüchteten
Frauen, Kindern und älteren Menschen ein warmherziges Willkommen zu
bereiten. Doch was ist mit dem Leid, das nicht zu ändern ist, mit
plötzlicher Krankheit, mit Schicksalsschlägen? Ich kenne Menschen, die
solche Zumutungen tragen können, weil sie sie mit dem Leiden des
gekreuzigten Herrn verbinden. Er hat bis zum letzten Atemzug vorgelebt,
dass ihm nichts genommen werden konnte, weil er zuvor bereits alles aus
Liebe hingegeben hat.
Auch die dreisten Versuche von Machthabern, sich der Wahrheit zu
bemächtigen und sie so zu verdrehen, dass sie ihren Zielen passend
erscheint; auch die offenkundige Lüge, die uns schier sprachlos macht,
weil sie diejenigen niederknüppelt, wegsperrt oder umbringt, die den
Mund auftun – im Licht dessen betrachtet, der in seiner Passion souverän
dem Versuch des römischen Statthalters widerstanden hat, ihn zu
korrumpieren; im Licht des Geschickes Jesu, dessen ge-waltsamer Tod für
Gott nicht das Ende seiner Möglichkeiten bedeutet hat; in diesem Licht
wird doch klar: Alle schändlichen Versuche, zu unterdrücken, was wahr
ist und zur Freiheit führt, werden auf Dauer keinen Erfolg haben. Wie
mutig war doch die Redakteurin Marina Owsjannikowa mit ihrem offenen
Protest gegen den Krieg mitten in den russischen Hauptnachrichten. Um
die Konsequenzen hat sie sicher gewusst; und genau darum mag sie viele
andere zu ähnlichen Zeichen ermutigen. Mich hat die Situation daran
erinnert, wie Jesus vor Pilatus stand und sagte: „Ich bin dazu geboren
und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.
Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37).
Schließlich beeindruckt mich die unverhohlene Ehrlichkeit, mit
der die Evangelien über die Einsamkeit, ja Verlassenheit Jesu in seinem
Leiden berichten. Einige legen ihm sterbend die Anfangsworte des Psalms
22 in den Mund: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
(vgl. Mk 15,34). Für mich ist das Auftrag, mich solidarisch mit jenen
Zeitgenossen zu verbinden, denen Gott offensichtlich verloren gegangen
ist; die ihn im Laufe ihres Lebens gar nicht kennenlernen konnten oder
aber irgendwie schleichend verlernt haben, mit Gott zu rechnen; und auch
mit denen, die ihr Leben bewusst und entschieden ohne religiöse
Ausrichtung in die Hand nehmen wollen. Wenn es stimmt, was die Gründerin
der katholischen Fokolarbewegung, Chiara Lubich (1920–2008), geistlich
erkannte, dann darf es unsere Solidarität nicht mit einem bloßen
„Drandenken“ bewenden lassen. Sie erwartet mehr von uns: „Aber wir
müssen es verstehen, Gott in uns für Gott in den Geschwistern zu
verlieren. Und dies tut, wer Jesus, den Gekreuzigten und Verlassenen,
kennt und liebt“ (Chiara Lubich in einem fragmentarischen Schlüsseltext
ihrer Mystik mit dem Titel Guardare tutti i fiori). Da geht es um
„Stellvertretung“ als einen christlichen Grundauftrag.
Zur Glaubenskunst des Christlichen gehört es, das, was uns im
Leben fragwürdig, unverständlich, anstößig, belastend, leidvoll
entgegentritt, in den großen Horizont des Leidens und Sterbens Jesu
einzutragen – hoffend, dass sich so etwas verändert und ein tieferer
Sinn erschließt. Die in Bamberg lebende Lyrikerin Nora Gomringer (*1980)
hat es so gesehen: „[…] Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz, / hat
einen schlimmen Schnitt in der Seite. / Seit tausenden Jahren verbindet
den keiner. / Das ist schon fahrlässig. / Ein Mann wie ein Briefkasten
dadurch. / Kummerkasten aus Holz mit Schlitz. / Gut, dass hier alles
gewandelt wird. / Werden Sorgen Gesänge“ (aus „Man sieht’s“, in: Nora
Gomringer, Gottesanbieterin, Dresden 2020, 80). Man kann es auch
feierlicher sagen, etwa mit dem Hebräerbrief: „Lasst uns also voll
Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade
finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit!“ (Hebr 4,16) Beide aber
legen uns dieselbe Haltung ans Herz. Und mit ihr wollen wir gleich bei
der Kreuzverehrung auf Jesus zugehen – nur einige Schritte, die aber
bewusst voll Ehrfurcht und Gottvertrauen. Und nie nur für uns allein.
Lesungen: Jes 52–53, Hebr 4–5
Evangelium: Joh 18–19
Es gilt das gesprochene Wort!
Predigt
von Bischof Dr. Georg Bätzing,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
in der Karfreitagsliturgie im Hohen Dom zu Limburg